Diskussionsforum H-Soz-Kult: Historische Grundwissenschaften und die digitale Herausforderung

Auf dem Historikertag 2014 in Göttingen hatte es sich schon angedeutet. Der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) wollte eine Diskussion zu den historischen Grundwissenschaften im Kontext der Digital Humanities führen und bat Rüdiger Hohls, Heiko Weber und Joerg Wettlaufer, dies in der Sektion zur Digitalisierung der Geschichtswissenschaften, die aus einem Vortragsteil und einer Podiumsdiskussion bestand, zu thematisieren. Am Ende kam diese Frage aber sicher zu kurz, und so ist es sehr zu begrüssen, dass nun eine breite Diskussion über dieses Thema über das Medium der Mailingliste von H-Soz-Kult und das Portal Clio-online geführt wird. Vielleicht ist es einigen auch so gegangen wie mir – vor den Weihnachtstagen blieb nur wenig Zeit, diese Diskussion zeitnah zu verfolgen oder sich gar selber zu beteiligen. Daher nun mit etwas Abstand und „zwischen den Tagen“ ein kurzes Statement von mir zu diesem Thema via digihum.de.

Bild Historische Grundwissenschaften Univ. Bamberg(Abb.: Professur für Historische Grundwissenschaften, Univ. Bamberg)

Die Diskussion mit bislang 21 Beiträgen ist nachzulesen unter:
http://www.hsozkult.de/text/id/texte-2890

Das Statement des VHD (Eva Schlotheuber / Frank Bösch) auf einen Blick lautet wie folgt:

– Historische Grundwissenschaften sind die Kompetenz, schriftliche und materielle Originalquellen vergangener Zeiten zu entschlüsseln und für eigene Fragestellungen fruchtbar zu machen
– Die Historischen Grundwissenschaften betreffen vormoderne, neuzeitliche und zeitgeschichtliche Quellen als auch deren Digitalisate
– Die „digitale Wende“ erfordert somit mehr und vertiefte Kompetenzen sowohl in der klassischen Quellenkritik als auch der Medienkritik
– Nur eine feste Verankerung der Historischen Grundwissenschaften in den Lehrplänen des Faches Geschichte verhindert einen drohenden Kompetenz-
und Reputationsverlust der deutschen Forschung1.

Die Grundthese besagt also, dass mit einer Digitalisierung der Quellen auch ein Ausbau der Fähigkeiten, dieselben nach wiss. Standards zu lesen und zu interpretieren, einhergehen müsste. Die Hinwendung zu den Digital Humanities, auch in der Forschungsförderung, wird somit zum Hebel für einen (Wieder-)Aufbau der Historischen Grund- oder Hilfswissenschaften, die in den letzten Jahrzehnten in Deutschland (und offensichtlich nur hier) massiv institutionell abgebaut wurden. Liest man sich etwas in die Diskussionbeiträge ein, dann gewinnt man schnell den Eindruck, dass es hier um noch grundsätzlichere Dinge wie das Selbstverständnis und die gesellschaftliche Relevanz des Fachs Geschichte selber dreht (z.B. Schmale, Müller). Sollte sich die Geschichtswissenschaft in Zukunft grundsätzlich als „Mannschaftssport“ begreifen, wie Jon Olson vorschlägt? Sollte man pragmatisch eine gewisse regionale Schwerpunktbildung für bestimmte Grundwissenschaften anstreben, wie Harald Müller in seinem Beitrag vorschlägt? Und verkomplizieren die Digital Humanities nicht eigentlich alles noch weiter, weil es nun weitere Kompetenzen (von Studenten und Professoren!) zu erwerben gilt, die parallel zu den zeitaufwändigen grundwissenschaftlichen Fähigkeiten erworben bzw. eingeübt werden müssten?

In der Tat, nicht jeder kann alles sein und können und die Mehrfachkompetenzen sind, wie Wolfgang Schmale zu Recht betont, recht dünn gesät. Ist es nicht eher so wie Jochen Johrendt in seinem Diskussionbeitrag fordert, dass wir das Potential für das Zusammenspiel aus Digital Humanities und Hilfswissenschaften – z.B. bei der Handwriting Text Recognition, den Datenbanken für Wasserzeichen, Münzen und Siegeln usw. sehen und fördern sollten? Die Digitalisierung von Wissenschaft und Gesellschaft ist ein tiefgreifender und mit erstaunlicher Geschwindigkeit fortschreitender Prozess, der permanent selbstreflektiv verlaufen sollte. Die Diskussion um Digital Humanities und Historische Grundwissenschaften ist sicher Teil dieser notwendigen Disskussion, die sich aber nicht in Forderungen nach einer Rückkehr zum Status Quo vor dem Abbau der Lehrstühle in diesem Bereich erschöpfen darf, sondern vielmehr von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die offene Hinwendung zu den neuen Möglichkeiten und Techniken der digitalen Bereitstellung, Aufbereitung und Verwaltung von Informationen erfordert, die sich dann auch fruchtbar in der Weiterentwicklung und Vermittlung der Historischen Grundwissenschaften auswirken werden. Also: Historische Grundwissenschaften und Digital Humanities gehören zusammen. Paläografie muss in Zukunft digital betrieben und gelehrt werden. Wenn Projekte wie die Venice Time Machine oder Transcribus/READ mit Horizon 2020 Förderung funktionieren, dann wäre dies das beste Argument für eine solche digitalisierte Geschichtswissenschaft auf allen Ebenen: in der Analyse, der Interpretation und eben auch ich der Text- und Materialkritik, wie sie nur von den Grundwissenschaften geleistet werden kann.

Es wäre also ganz verkehrt, das Eine (die Digital Humanities) gegen das Andere (die Historischen Grundwissenschaften) ausspielen zu wollen – vielmehr können nur digitalisierte Grundwissenschaften diejenigen Kompetenzen aufbauen und verbreiten, die zur Interpretation und zum Verständnis der inzwischen immer öfter vorliegenden Quellendigitalisate notwendig sind. Vielfach wird das nur in Teamarbeit und in Kooperation zwischen Historikern mit vertieften Kompetezen in den Grundwissenschaften und Informatikern gehen. Es geht also in der Tat um Grundsätzliches und das Selbstverständnis des Fachs. Eine spannende Diskussion, die hoffentlich auch im neuen Jahr weitergeführt werden wird.

(Jörg Wettlaufer, Göttingen)